Zwischen Mythos und realer Gefahr – die Diskussion um den Fachkräftemangel

In Deutschland herrscht Fachkräftemangel und das schon ziemlich lange. Oder? Geklagt wird darüber jedenfalls, solange ich denken kann. Mal fehlen Informatiker:innen, mal Ärztinnen und Ärzte und irgendwie immer Ingenieur:innen. Aber ist das wirklich so? Die Zahl der Absolvent:innen in den Ingenieurwissenschaften hat sich in den letzten 15 Jahren zum Beispiel mehr als verdoppelt.[1] Die Zahl der Klagen über zu wenige Ingenieur:innen aber hat sich im selben Zeitraum nicht halbiert.

Auch jetzt wird wieder viel über den Fachkräftemangel diskutiert und dabei geht es längst nicht nur um fehlende Ingenieur:innen, sondern auch um Handwerker:innen, um Alten- und Krankenpfleger:innen, um Beschäftigte im öffentlichen Dienst und und und. Manchmal könnte man meinen, Deutschland stünde kurz vorm Kollaps. Alles nur Panikmache? Naja, irgendwas scheint da schon dran zu sein. Ich weiß nicht, wann ihr das letzte Mal versucht habt, einen Termin bei einer:m Handwerker:in zu bekommen, aber das dauert zurzeit. Und tatsächlich ist es für viele Menschen gerade schwierig, einen Pflegeplatz für ihre Angehörigen zu finden. Was ist also dran an der Diskussion um den Fachkräftemangel? Gibt es ihn überhaupt? Und falls ja, wie schlimm ist es wirklich? Zeit für einen Faktencheck.

Am Anfang soll dafür einmal geklärt werden, was man eigentlich meint, wenn man vom Fachkräftemangel spricht. Die Bundesagentur für Arbeit definiert das Phänomen so: „Als Fachkräftemangel bezeichnet man in der Regel den Zustand einer Volkswirtschaft, in dem eine bedeutende Anzahl von Arbeitsplätzen nicht oder nicht zeitgerecht durch Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mit bestimmten Kenntnissen und Fähigkeiten besetzt werden kann, weil auf dem Arbeitsmarkt keine ausreichende Anzahl entsprechend qualifizierter Fachkräfte zur Verfügung steht.“[2] Man schaut also, ob in den jeweiligen Branchen und Regionen der bestehenden Nachfrage ein ausreichendes Angebot an qualifizierten Fachkräften gegenübersteht. Und vom Fachkräftemangel spricht man dann, wenn die bestehende Nachfrage über einen längeren Zeitraum nicht gedeckt werden kann, weil es nicht genügend qualifizierte Arbeitnehmer:innen gibt, um die offenen Stellen zu besetzen. Einfach übersetzt:

Wenn ich Schrauben produzieren will und ich finde nicht genug Leute, die bei mir an der Maschine stehen, dann habe ich Fachkräftemangel. Soweit so nachvollziehbar.

Spannend jedoch ist, dass die Bundesagentur für Arbeit festhält, dass man auf der Grundlage dieser Definition für die Bundesrepublik weder von einem allgemeinen Arbeitskräftemangel noch von einem umfassenden Fachkräftemangel sprechen kann. Und trotzdem sprechen alle darüber. Und trotzdem kriegt man zurzeit kaum Handwerker:innen oder Pflegeplätze. Wie kann das sein? Um das zu verstehen, ist es wichtig festzuhalten, dass es nicht den Fachkräftemangel gibt. Es kommt sozusagen auf die Zoom-Stufe an und darauf, wo man hinguckt. Was heißt das? Wenn man rauszoomt und sich die gesamte Wirtschaft der Bundesrepublik anschaut, kann man nicht von einem allgemeinen Fachkräftemangel sprechen. Aber wenn man reinzoomt und den Blick auf einzelne Branchen und Regionen richtet, kann man durchaus den ein oder anderen Fachkräftemangel erkennen. Häufig spricht man dabei auch synonym von einem Fachkräfteengpass. Ein solcher Engpass lag in NRW laut dem „Kompetenzzentrum Fachkräftesicherung“[3] 2021 unter anderem in folgenden Berufsfeldern vor: Altenpflege; Gesundheits- und Krankenpflege; Bauelektrik; Sanitär-, Heizungs- und Klimatechnik; zahnmedizinische Fachangestellte. Hinzu kommen Berufsfelder wie Kinderbetreuung und -erziehung; Physio- und Ergotherapie; Informatik sowie Sozialarbeit und Sozialpädagogik.

Hättet ihr auch an diese Berufsfelder gedacht, wenn ihr das Wort ‚Fachkräftemangel‘ hört? Immerhin wird so deutlich, warum es schwer sein kann, einen Pflegeplatz für eine:n Angehörige:n zu finden. Oder warum man auf so manchen Handwerker:innentermin zurzeit lange warten muss, wenn z.B. was an der Gastherme ist. Aber vielleicht fragt ihr Euch auch, was denn mit den Ingeneur:innen ist, bei denen doch seit Jahren der Fachkräftemangel beklagt wird. Die tauchen hier ja gar nicht auf. Und das liegt nicht daran, dass das die Zahlen aus NRW sind. Komisch, oder?

Das führt uns zum Kern der Diskussion um den Fachkräftemangel. Denn die wichtigste Erkenntnis bei diesem Thema ist: Nicht bei allem, wo Fachkräftemangel draufsteht, ist auch Fachkräftemangel drin. Manchmal steckt hinter dem Schlagwort auch was ganz anderes.

Deshalb ist es wichtig, in der Debatte zwischen tatsächlichem und behauptetem Fachkräftemangel zu unterscheiden.

Denn ja, wie wir gesehen haben, gibt es in einigen Berufsfeldern einen tatsächlichen Fachkräftemangel. Häufig tritt er in Berufen mit schlechten Ausbildungs- und/oder Arbeitsbedingungen auf und ist dann hausgemacht. In den pflegerischen Berufen beispielsweise klagen die Beschäftigten seit Jahren über zu knapp bemessene Personalschlüssel und Überlastung, was dazu geführt hat, dass hunderttausende Menschen ihren Wunschberuf verlassen haben. Hier herrscht deshalb zwar ein realer Fachkräftemangel, aber nicht im klassischen Sinne weil es zu wenig qualifizierte Pfleger:innen gäbe. Eine Studie[4] aus dem letzten Jahr kommt in diesem Zusammenhang zu einem krassen Ergebnis: Könnte man die “ausgestiegenen” Pflegekräfte zu einer Rückkehr in den Job bewegen, gäbe es ein Potenzial von 260.000 bis 580.000 Vollzeitstellen. Hinter dem Schlagwort ‚Fachkräftemangel‘ steckt in diesem Bereich also nicht die Erkenntnis, dass uns die entsprechend qualifizierten Beschäftigten fehlen, sondern dass wir die Arbeitsbedingungen in der Pflege verbessern müssen.

Und besonders in den Fällen, in denen ein Fachkräftemangel nur behauptet wird, stecken oft ganz andere Gründe dahinter. Das führt uns zum Schluss zu den Ingenieur:innen zurück. Wie bereits erwähnt, wird über den Fachkräftemangel bei den Ingenieur:innen geklagt, seit ich denken kann und dieser Klage scheint nichts etwas anhaben zu können. Dabei ist dieser vermeintliche Mangel umstritten und es gibt einige Fakten, die stutzig machen. Da sind zum einen die bereits genannten Absolvent:innenzahlen in den Ingenieurwissenschaften, die sich in den letzten 15 Jahren mehr als verdoppelt haben. Zum anderen verweisen Kritiker:innen[5] darauf, dass der Arbeitsmarkt eben auch nach den Gesetzmäßigkeiten von Angebot und Nachfrage funktioniere. Wenn also die Nachfrage nach Fachkräften wirklich so groß und dass Angebot an Fachkräften tatsächlich so klein wäre wie behauptet, dann müsste ja der Preis, in diesem Fall der Lohn, deutlich steigen. Die einzelnen Unternehmen müssten dann ja in starker Konkurrenz zueinander um die letzten noch verfügbaren Fachkräfte stehen und diese daher mit guten Arbeitsbedingungen und hohen Löhnen an sich binden. Tatsächlich geben das die Zahlen der letzten Jahre aber nicht her. Die Löhne von Ingenieur:innen sind nicht überdurchschnittlich gestiegen. Und schließlich weist auch die Engpassanalyse der Bundesagentur für Arbeit keinen umfassenden Fachkräftemangel bei Ingenieur:innen aus. Einen tatsächlichen Mangel gibt es in den Branchen, die zurzeit wegen der Energiewende besonders gefragt sind, z.B. im Tiefbau oder in der Sanitär-, Heizungs- und Klimatechnik, aber zu sagen, dass der Wirtschaft allgemein Ingenieur:innen fehlen würden, ist falsch. Was steckt also häufig tatsächlich hinter dem jahrelangen Klagen?

Hier sind vor allem zwei Gründe zu nennen. Zum einen ist die Arbeitgeber:innenseite natürlich daran interessiert, die Löhne möglichst gering zu halten. Deshalb wird das Narrativ des Fachkräftemangels häufig als Bluff genutzt, um die nachgefragte Arbeitskraft möglichst billig zu bekommen und das passiert, wenn es mir gelingt, für Konkurrenz nicht zwischen den Unternehmen sondern zwischen den Arbeitnehmer:innen zu sorgen. Dadurch dass ich lang genug erzähle, dass es z.B. zu wenig Ingenieur:innen in Deutschland gäbe, entscheiden sich immer mehr junge Menschen, diesen Beruf zu ergreifen, sodass ein Überangebot entsteht. Außerdem dränge ich die Politik dazu, aufgrund des behaupteten Fachkräftemangels die Hürden für die Zuwanderung in die entsprechende Branche zu senken. Ausländische Fachkräfte kann ich erstmal schlechter bezahlen, weil deren Abschlüsse häufig nicht direkt anerkannt werden und so entsteht zusätzliche Konkurrenz unter den Arbeitnehmer:innen. Mein Ziel, die Löhne möglichst gering zu halten, wurde erreicht. Der Bluff hat funktioniert.

Das ist der eine Grund, der hinter so manchen Klagen über einen vermeintlichen Fachkräftemangel steckt. Der zweite heißt Bestenauslese. Manchmal fehlen nämlich gar nicht wirklich Fachkräfte sondern einfach nur die Eier legende Wollmilchsau. Stellt Euch vor, ihr wollt Euch ein Auto kaufen, z.B. einen VW Golf. Wenn ihr das bei einem Onlineportal eingebt, erhaltet ihr vielleicht 20.000 Treffer. Jetzt soll der Golf im besten Fall natürlich nicht schon zehn Jahre alt sein, sondern vielleicht maximal fünf, wodurch sich die Trefferzahl schonmal reduziert. Außerdem schwebt Euch noch eine bestimmte Farbe vor. Blau soll der maximal fünf Jahre alte Golf sein. Dafür spuckt Euch das Portal noch 500 Treffer aus. Euer Golf sollte darüber hinaus aber auch noch eine Klimaanlage und eine Sitzheizung haben und am besten Ledersitze. Mit der Kombination findet ihr noch fünf Treffer. Und jetzt wollt ihr auch noch eine Anhängerkupplung, ne Rückfahrkamera und Alu-Felgen und plötzlich findet ihr gar keinen Treffer mehr. Würdet ihr dann sagen, dass in Deutschland VW Golf-Mangel herrscht?[6] Wahrscheinlich nicht. Tatsächlich mangelt es nämlich nicht an VW Golfs, sondern ihr findet einfach nicht exakt den einen, den ihr Euch als Ideal vorgestellt habt. Das kommt so auch bei manchen Unternehmen vor. Obwohl man für eine Stelle sechs Bewerbungen von passend qualifizierten Fachkräften bekommt, stellt man niemanden davon ein, weil die eine Person nicht dabei war, die direkt von Tag eins an 150 Prozent geben kann und dann sagt man: Fachkräftemangel. Aber tatsächlich stecken dahinter übertriebene Einstellungsanforderungen und die mangelnde Bereitschaft, neue Fachkräfte einzuarbeiten.

Fazit

In Deutschland herrscht Fachkräftemangel. Ja, aber eben häufig nicht in den Berufen, die man bei dem Schlagwort im Kopf hat. Wir müssen genauer hinsehen und zwischen tatsächlichem und nur behauptetem Fachkräftemangel unterscheiden. Gegen den tatsächlichen Fachkräftemangel müssen wir etwas unternehmen, denn der gefährdet auch tatsächlich unseren Wohlstand in NRW und der Bundesrepublik. Hier sind wir als Politik gefragt. Und was man dagegen tun kann, darum soll es in den nächsten Wochen in meinem Blog gehen.

Aber auch gegen den nur behaupteten Fachkräftemangel müssen wir was tun – nämlich die Arbeitsbedingungen in den jeweiligen Branchen verbessern und die Löhne erhöhen. Das geht am besten über eine Stärkung der Tarifbindung und über schlagkräftige Gewerkschaften. Viele organisierte Kolleg:innen kämpfen gerade unter anderem genau dafür und das auch mit Streiks. Dafür haben sie unsere volle Solidarität.

[1] https://de.statista.com/statistik/daten/studie/247927/umfrage/absolventen-in-der-faechergruppe-ingenieurwissenschaften-an-deutschen-hochschulen/.

[2] Bundesagentur für Arbeit: Arbeits- und Fachkräftemangel trotz Arbeitslosigkeit. S. 12. Abrufbar: https://statistik.arbeitsagentur.de/DE/Statischer-Content/Statistiken/Themen-im-Fokus/Fachkraeftebedarf/Generische-Publikationen/Arbeits-und-Fachkraeftemangel-trotz-Arbeitslosigkeit.pdf;jsessionid=B4D5EFC68711FA87B6579ECD6E759CB3?__blob=publicationFile&v=2.

[3] https://www.kofa.de/media/Publikationen/Laendersteckbriefe/Nordrhein-Westfalen.pdf.

[4] https://www.boeckler.de/de/pressemitteilungen-2675-neue-studie-mindestens-300-000-zusatzliche-pflegekrafte-40798.htm.

[5] https://www.wiwo.de/erfolg/management/fachkraeftemangel-der-fachkraeftemangel-ist-ein-mythos/20504844-all.html.

[6] Beispiel übernommen aus ARD: „Der Arbeitsmarktreport – Das Märchen vom Fachkräftemangel“ vom 21.07.2014. Abrufbar: https://www.youtube.com/watch?v=BArmrsK_EEE.

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